Freitag, 2. Dezember 2016

"Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei: Allein die Guten bringen sie zurück ..."


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Tasso:
O welches Wort spricht meine Fürstin aus!
Die goldne Zeit wohin ist sie geflohn?
Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt!
Da auf der freien Erde Menschen sich
Wie frohe Herden im Genuß verbreiteten;
Da ein uralter Baum auf bunter Wiese
Dem Hirten und der Hirtin Schatten gab,
Und jüngeres Gebüsch die zarten Zweige
Um sehnsuchtsvolle Liebe traulich schlang;
Wo klar und still auf immer reinem Sande
Der weiche Fluß die Nymphe sanft umfing;
Wo in dem Grase die gescheuchte Schlange
Unschädlich sich verlor, der kühne Faun
Vom tapfern Jüngling bald bestraft entfloh;
Wo jeder Vogel in der freien Luft
Und jedes Tier, durch Berg und Täler schweifend
Zum Menschen sprach: Erlaubt ist was gefällt.

Prinzessin:
Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei:
Allein die Guten bringen sie zurück;
Und soll ich dir gestehen wie ich denke,
Die goldne Zeit, womit der Dichter uns
Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war,
So scheint es mir, so wenig als sie ist,
Und war sie je, so war sie nur gewiß,
Wie sie uns immer wieder werden kann.
Noch treffen sich verwandte Herzen an
Und teilen den Genuß der schönen Welt;
Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund,
Ein einzig Wort: Erlaubt ist was sich ziemt.

Johann Wolfgang von Goethe
(1749 - 1832), deutscher Dichter und Staatsmann

Quelle: Goethe, Torquato Tasso, 1807. 2. Akt, 1. Auftritt

Prinzessin Today

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Foto: Saskia-Marjanna Schulz